Jeder hat eine Geschichte, manche bleiben in der Gesellschaft jedoch verborgen. Mit einem Kunstprojekt in Wil möchte die NGO Cup of Color diesen Menschen eine Stimme geben: Deshalb gestalten sieben Bewohner des Hauses Otmar mit sieben Künstlern Wandbilder.
Erschienen in der Wiler Zeitung am 30. Oktober 2025

Mit dunklen Augen schauen sie die Vorbeigehenden an. Ihre Ohren sind angewinkelt, ihre Schnauzen neugierig entgegengestreckt. Bei manchen blitzen die scharfen Eckzähne hervor. So genau kann man das Wolfsrudel wahrscheinlich nur auf einem Wandbild bestaunen. In der Natur sind die Tiere scheu und halten sich versteckt. Manuel* fühlt sich manchmal wie ein Wolf. Es ist seine eigene Geschichte, die als Inspiration für das Wandbild dient. Der St.Galler Künstler Martin Tiziani bringt es in der Werkhofstrasse in Wil an die Wand.
Manuel ist ein Bewohner des Hauses Otmar. Die Männer, die dort ein Zuhause finden, befinden sich in schwierigen Lebensphasen. Zurzeit gestalten sieben der Bewohner gemeinsam mit sieben Künstlern sieben Wandbilder, die ihr Leben, ihre Träume und ihre Hoffnungen widerspiegeln. Denn oft bleiben ihre Geschichten in der Gesellschaft unsichtbar. Mit der Kunst sollen die Männer eine Stimme und Sichtbarkeit erhalten, ohne dass sie ihr Gesicht zeigen müssen.
Die Wölfe in Grossmutters Garten
Das Wandbild von Manuel und Tiziani ist noch nicht ganz fertig. Am linken und rechten Rand des Bilds sind Umrisse von Blumen erkennbar. Neben den Wölfen mag Manuel nämlich auch Pflanzen, wie der Bewohner Tiziani im Vorgespräch erzählte. Die Pflanzen würden ihn an Zeiten in seiner Kindheit erinnern, die er im Garten seiner Grossmutter verbrachte.

Durch das Projekt reflektiert Tiziani auch sein eigenes Leben. Er sei etwa gleich alt wie Manuel und doch in einer ganz anderen Lebenssituation. Dadurch sei ihm wieder einmal bewusst geworden, wie unterschiedliche Voraussetzungen ein Leben prägen können. Manuel sei bisher jeden Tag bei ihm an der Wand gewesen. Er habe sich zwar nicht getraut, selbst mitzumalen – aus Angst, das Bild zu ruinieren – dennoch habe er ihn so bei der Gestaltung unterstützt.
Nikki und «Brainfart» als Comic-Charaktere
Die sieben Künstler und ihre Stile sind genau so verschieden wie die Bewohner. Neben den Wölfen entsteht das Werk von Nikki und dem Zürcher Künstler Brainfart. Als diese Zeitung am Mittwoch um zehn Uhr morgens vorbeischaut, ist die Wand noch ein unbeschriebenes Blatt. «Brainfart» spazierte gerade her, begrüsst die anderen Künstler und beginnt, ein oranges Raster darauf zu zeichnen. Währenddessen beginnt ein kurzer Rundgang durchs Haus Otmar. Bei der Rückkehr der Journalistin glupschen sie die vier riesigen Augen zweier Comic-Charaktere an.

Das Ganze erhält später noch eine Farbspritze. Auf seinem Handy zeigt «Brainfart», wie das Wandbild am Ende aussehen soll: links der Künstler (als Comic-Charakter) mit seinem Stift in der Hand, rechts Nikki (ebenfalls als Comic-Charakter) mit einem Tennisschläger. Im Vorgespräch, das alle Künstler mit den Bewohnern führten, erfuhr er, dass das eine frühere Leidenschaft von Nikki war.
«Brainfart» zeigt ein Video von Nikkis Reaktion, als er den Entwurf des Wandbilds zum ersten Mal sah: Er freut sich riesig und wirkt so, als könnte er es kaum erwarten, mitzuhelfen. An diesem Nachmittag wird Nikki den Künstler beim Malen unterstützen.
Das Wandbild als Rätsel
David* hingegen wird nicht selbst am Bild malen. Im Gespräch mit dem Luzerner Künstler Matthias Leutwyler habe der Architekt von seinem Interesse für abstrakte Kunst erzählt. Er möge es, wenn die Geschichte eines Kunstwerks nicht auf den ersten Blick entziffert werden kann. Deshalb möchte er sich erst dann mit dem Bild auseinandersetzen, wenn es fertig ist.

Leutwyler ist Illustrator und macht unter anderem visuelles Storytelling – er bringt also Strategien und Ideen in Bildform. Somit arbeitet er im Alltag eher konkret als abstrakt. In seiner Kollaboration mit David vereint er seine eigenen Vorstellungen mit denen des Bewohners.
Ein wichtiger Durchbruch
Fährt man von der Bahnhofseite auf die Werkhofstrasse ein, so bleibt der Blick rasch am Wandbild von Sandro* und dem Wiler Künstler Alexander Huwyler hängen. Ein schwarzes Pferd mit weisser Blesse schaut auf die Strasse, sein Fell scheint in der Sonne zu glänzen. Gerade tätigt Huwyler den Feinschliff an der prächtigen Mähne. Am Bild fällt noch mehr auf: eine durchbrochene Mauer, zersplittertes Glas und Blumen.

Huwyler erzählt aus dem Gespräch mit dem Bewohner: Die drei Elemente symbolisieren einen wichtigen Durchbruch in dessen Leben. Lange Zeit war Sandro alkoholabhängig, nun konnte er sich endlich davon lösen. Über Blumen, die er kürzlich als Geschenk erhalten hat, habe er sich sehr gefreut, weshalb auch diese einen Platz in seiner Geschichte erhalten.
Wie der Luzerner Künstler bringt sich auch Huwyler in das gemeinsame Projekt ein. Er malt gerne tropische Fische – einer erhält seinen Platz in der zerbrochenen Glaskugel, die bislang erst mit Wasser gefüllt ist.
Kunst, um Brücken zu bauen
Die Zusammenarbeit zwischen den Bewohnern und den Künstlern ist wohl das Wichtigste am Projekt. Damon Lam, der die Organisation Cup of Color 2015 gemeinsam mit seiner Frau Rahel gründete, sagt, dass Kunst ein Weg ist, Brücken zu bauen. Bei diesem Projekt entsteht eine Verbindung zwischen Bewohnern und Künstlern. Sie tauschen sich aus, inspirieren sich gegenseitig und lernen voneinander. Die Verbindung wird aber auch nach aussen, in die Gemeinschaft getragen. Menschen, die die Bilder beim Vorbeigehen sehen, können an der Konversation teilhaben.

Auch Lam gestaltet gemeinsam mit einem Bewohner ein Wandbild. Amar erzählt mit dem Wandbild eine Geschichte aus seiner schweren Kindheit in Afghanistan, wo er seine eigenen Tauben züchtete.
Grillfest auf dem Gabelstapler
Etwas weiter links weht den Menschen der Wind durch die Haare. Der Duft von grillierter Wurst erfüllt die Luft, Gitarre wird auch gespielt. Und das alles auf einem Gabelstapler. Das Wandbild von Pascal* und dem Thuner Künstler Stefan Burri vereint die Dinge, die dem Bewohner viel bedeuten. Pascal blicke gerne zurück auf die Zeit, in der er als Gabelstapelfahrer arbeitete. Auch die Grillabende mit Freunden habe er immer sehr genossen
Das siebte Bild, gleich neben dem von Pascal und Burri, entsteht am Ende der Werkhofstrasse. Bisher ist die Wand noch leer. Der Künstler Martin Gatarski ist erst heute Morgen aus München angereist und bespricht mit Bewohner Nicolas*, was an die Wand soll.


Cup of Color arbeitet nicht das erste Mal mit dem Haus Otmar. Das erste gemeinsame Projekt realisierten sie 2021. Im Wohnheim zieren bereits vier Kunstwerke die Wände. Auch dabei konnten sich die Bewohner einbringen – zwei der Bilder enthalten Hinweise darauf, was Nicolas wichtig ist. Das Pi-Zeichen deutet darauf hin, dass er sich für Mathematik interessiert, die Füllfeder, dass er gerne schreibt.
Das bestätigt das Wandbild, in dessen Zentrum eines seiner Zitate geschrieben steht: «Die Welt ist eine einzige grosse Weide. Um erfolgreich zu sein, müssen wir uns gegenseitig hüten.» Ursprünglich formulierte er es auf Englisch: «This world is a vast pasture. To succeed, we must shepherd one another.»
Aufmerksamkeit wirkt Wunder
Bis Freitag, den 31. Oktober, sollen alle Wandbilder fertig sein, denn dann findet das Einweihungsfest statt. Von 14 bis 21 Uhr erwartet Besucherinnen und Besucher beim Haus Otmar an der Mattstrasse 14 Kaffee, Kuchen, Abendessen und Live-Musik. Zudem werden mehrere Führungen gegeben, bei denen die Kunstwerke vorgestellt und Einblicke in die Arbeit von Cup of Color und dem Haus Otmar gegeben werden. Das Projekt wurde durch Freiwilligenarbeit, Wiler Firmen und die Unterstützung von Thurkultur ermöglicht.

Für Cup of Color ist Kunst ein Weg, Hoffnung und Veränderung zu schaffen. Deshalb realisiert die NGO Projekte gemeinsam mit Menschen aus gesellschaftlichen Randgruppen. «Jeder hat eine Geschichte», sagt Damon Lam. Diese zu erzählen, gebe Menschen Kraft.
Diesen Effekt kann Naemi Krähenmann, Leiterin des Haus Otmar Teams, auch bei den Bewohnern erkennen. «Das Projekt ist eine Bereicherung», sagt sie. Die Aufmerksamkeit tue den Bewohnern gut. Es sei wertvoll, dass sie ungezwungen und in dem Mass mitwirken können, in dem sie sich wohlfühlen. Denn die eigene Geschichte zu erzählen, braucht Mut.
*Name der Redaktion bekannt

