Portrait: Faul, schludrig, verhaltensauffällig

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Manchmal verbringt Noah in der Schule mehrere Stunden unter dem Pult. All die Sinneseindrücke zu ordnen, fällt ihm schwer. Seine Mutter und eine Therapeutin der Wahrnehmungsorganisation St. Gallen sprechen über den Alltag mit seiner Beeinträchtigung.

Erschienen im St.Galler Tagblatt am 6. Oktober 2025

Bei der Affolter-Therapie führen die Therapeutinnen die Bewegungen gemeinsam mit den Patienten aus. Bild: zvg

Der neunjährige Ostschweizer Noah Keller (Name geändert) liebt es, Fussball zu spielen. Doch wenn er sich in einem Spiel mit seiner Mannschaft freiläuft, gelingt es ihm nicht, auf sich aufmerksam zu machen. Die Hand heben, rufen «ich bin frei» – das schafft er in der Hektik einfach nicht.

Noah hat eine Wahrnehmungsstörung. Abläufe, die für viele natürlich sind, können ihn vor Herausforderungen stellen. Sehen, fühlen, hören, riechen: All diese Eindrücke auf einmal zu verarbeiten, ist für ihn schwierig. Situationen, die auch bei Menschen ohne Wahrnehmungsstörung Stress verursachen, können ihn funktionsunfähig machen.

Er versteckte sich stundenlang unter dem Pult

«Wenn mein Sohn nicht mehr weiterweiss, ist er wie versteinert», sagt Susanne Keller. Sie weiss, wie sie in einer solchen Situation wieder zu ihm durchdringen kann, stellt ihm etwa Fragen, die er einfach mit Nicken oder Kopfschütteln beantworten kann. Verbal zu kommunizieren, ist in so einem Moment nicht möglich.

Fehlt Noah Kellers Mitmenschen das Bewusstsein für seine Beeinträchtigung, können schwierige Situationen entstehen. So auch in der Schule.

Eine Zeit lang verbrachte er im Schnitt drei von vier Schulstunden unter dem Pult. «Ihm trotzdem jeden Morgen viel Spass zu wünschen, machte mich kaputt», sagt Keller. Sein Verhalten zeigte, wie gross der Bedarf nach einer Therapie war. Doch sie befanden sich in einem langwierigen und anstrengenden Abklärungsprozess.

Kinderärztin nahm sie nicht ernst

Schon früh merkte Keller, dass ihr Sohn Wahrnehmungsprobleme hat. Beim Wickeln habe er seinen Körper immer angespannt. Während Babys sonst automatisch die Beine hochheben, lag ihr Sohn flach auf dem Wickeltisch.

Wenn die Sinne überwältigen

Im Alltag sind wir unzähligen Reizen ausgesetzt, die wir über unsere Sinnesorgane wahrnehmen. Hören, sehen, fühlen, riechen, schmecken: Wir richten unsere Aufmerksamkeit nicht auf alle Eindrücke gleichzeitig, sondern auf das, was in der jeweiligen Situation relevant ist. Diese gezielte Auswahl und Verarbeitung von Reizen bezeichnet man auch als Informationssuche.
Menschen mit einer Wahrnehmungsstörung sind in diesem Prozess eingeschränkt. Sie haben Schwierigkeiten, Sinneseindrücke richtig zu verarbeiten, zu ordnen und angemessen darauf zu reagieren.

Sie teilte ihre Befürchtung mit der Kinderärztin, doch diese nahm sie nicht ernst. So früh könne man das nicht beurteilen, habe sie damals gesagt. «Wir mussten ein Stück weit kämpfen», erinnert sich Keller.

Nach ersten Abklärungen erkannten die Ärzte das Problem dann doch an, woraufhin Noah regelmässig die Logopädie und Physiotherapie im Kinderspital besuchte. Bei der Einschulung übernahm der Schulträger die Therapie. Als der logopädische Dienst plötzlich eingestellt wurde, ging der mühsame Abklärungsprozess von vorn los. Während zweieinhalb Jahren stand Noah trotz ersichtlicher Probleme im Alltag ohne Therapie da. «Es brauchte viel Mut, Engagement und Ausdauer, um für seine Rechte einzustehen und die nötige Therapie aufzugleisen», sagt Keller.

Auf der Suche nach dem Mixer

Schliesslich entschied sich die Familie für eine Abklärung, die sie privat bezahlte. Da ging es schnell: Die Therapeutin bestätigte, dass es sich um ein Wahrnehmungsproblem handelt. Doch bis die Therapie von der Schulgemeinde genehmigt und ein Therapieplatz gefunden wurde, verging einige Zeit.

Seit Dezember 2023 besucht Noah die logopädische Therapie der Wahrnehmungsorganisation in St.Gallen. Dort wird das Affolter-Modell angewendet.

«In der Therapie nach dem Affolter-Modell führen wir die Kinder mit den Händen zu den gespürten Informationen», erklärt Noahs Therapeutin, Lara Carlot. Die Methode wird von verschiedenen Fachgruppen und in verschiedenen Bereichen bei der Behandlung von Menschen mit Wahrnehmungsstörungen angewendet. Anstatt Betroffenen verbal zu vermitteln, was sie tun sollen, erleben sie die Handlungen gemeinsam. «Das Spüren steht im Zentrum», sagt Carlot.

Therapie und Alltag mit einer Wahrnehmungsstörung

Die Wahrnehmungsorganisation, in der Noah therapiert wird, ist Teil der Arbeitsgemeinschaft pro Wahrnehmung (APW). Die APW will Menschen für Wahrnehmungsstörungen sensibilisieren und Wissen vermitteln. «Sie ist eine Anlaufstelle für Fachpersonen, sowie Betroffene», sagt Carlot. Am 20. September feierte die APW ihr 50-jähriges Jubiläum.

Um die Betroffenen beim Bewältigen des Alltags zu unterstützen, backen und kochen sie in der Therapie viel. Hinter dem Endresultat (beispielsweise einem Kuchen) stecken einzelne Schritte, die der Reihe nach ausgeführt werden müssen. Dabei geht – wie auch im richtigen Leben – nicht immer alles nach Plan. Vielleicht steht der Mixer woanders als üblich. Der Betroffene muss dann an einem anderen Ort suchen oder andere Personen um Hilfe bitten. Mit der Zeit lernt er, den komplexen Alltag zu bewältigen und die Wahrnehmung besser zu organisieren.

Sie kämpfen um Anerkennung

Meist geht eine Wahrnehmungsstörung mit einer weiteren Entwicklungsstörung wie Autismus einher. Oder, wie bei Noah, mit einer Sprachentwicklungsstörung. Diese Diagnose allein ist jedoch nicht ausreichend für einen Nachteilsausgleich in der Schule. «Eine im Sonderpädagogikkonzept anerkannte Diagnose wäre wichtig, weil es dadurch fairere Bedingungen für das Kind gibt», sagt Keller.

Noah ist stark auf das Verständnis der Lehrpersonen angewiesen. Häufig stösst er mit seiner Beeinträchtigung jedoch auf Unverständnis. Sein Verhalten wird falsch gedeutet. Faul, schludrig, verhaltensauffällig – Beschreibungen, die Keller über ihren Sohn immer wieder hört. Er sei zu langsam und brauche beim Lösen von Aufgaben viel länger als andere Kinder.

«Eigentlich ganz logisch», sagt Carlot. Für die Therapie bereitete sie eine Leseübung mit Zeitdruck vor. Dabei stieg bei Noah die Anspannung so stark, dass er aufstand, sich auf die Zehenspitzen stellte, nach vorn lehnte und versuchte, die Aufgabe in dieser Position zu lösen. Im Anschluss an die Therapie machte Carlot es ihm nach und erkannte, wie anspruchsvoll es ist: «Danach war ich mit meiner Energie am Ende.» Selbsterfahrung zu sammeln ist für Carlot zentral, um ihr Verständnis zu stärken.

Dank Therapie hebt Noah nun die Hand

Eigentlich stehen Noah in seinem Leben alle Wege offen. Bei Menschen mit einer Wahrnehmungsstörung muss nicht zwingend die Kognition betroffen sein. So wie es auch bei Noah der Fall ist, erklärt Keller. Nun komme es darauf an, ob es ihm gelinge, sich zu organisieren und ob er auf seinem Weg auf unterstützende Menschen treffe.

Für Noah sei es schwieriger, zu lernen und zu zeigen, was er kann, als für andere Kinder. Doch: «Wenn er etwas möchte, hat er aber eine riesige Ausdauer», sagt Keller. Wie etwa im Fussball. «Ich höre schon morgens um sechs Uhr den Ball und abends nach dem Zähneputzen.»

Und die Therapie zeigte schnell erste Wirkung: Nach nur vier Monaten hat Noah gelernt, auf dem Fussballplatz auch im Eifer des Gefechts die Hand zu heben und «hier» zu rufen. Nun spielen seine Teamkollegen ihm den Ball zu, wenn er frei steht.

Weitere Informationen unter www.apwschweiz.ch

Von Lisa