Versteckt im hohen Gras

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Wenn Rehkitze das Mähwerk der Landwirte hören, ducken sie sich ins hohe Gras – das kann ihnen zum Verhängnis werden. Um die Tiere zu schützen, fliegt Pascal Keller mit Drohne und Wärmebildkamera frühmorgens über die Thurgauer Felder.

Erschienen in der Thurgauer Zeitung am 19. Juni 2025

Eines der geretteten Rehkitze. Bild: zvg

Es ist Dienstag, viertel nach drei frühmorgens. Auf den Schotterwegen zwischen den weiten Pfyner Feldern ist es still. Auch Mitte Juni steht die Sonne um diese Uhrzeit noch unter dem Horizont. Es ist stockdunkel. Der Rest der Welt scheint noch zu schlafen.

Dann wird die Dunkelheit kurz durchbrochen: Ein silbriger VW-Bus nähert sich über den Feldweg. Aus dem Fahrzeug steigen Drohnenpilot Pascal Keller, der Jagdobmann und drei freiwillige Helferinnen und Helfer. Mit Regenhosen, Gummistiefeln und Stirnlampen stehen sie da, bereit für ihre Mission: Rehkitzrettung.

Keller fliegt freiwillig

Seit fünf Saisons engagiert sich Keller als registrierter Drohnenpilot bei der Rehkitzrettung Schweiz. Seine Drohne ist mit einer Wärmebildkamera ausgestattet. Während die Suche vor einigen Jahren noch anstrengender und zeitintensiver war, weil die Felder zu Fuss abgesucht werden mussten, kann er damit grosse Flächen innerhalb weniger Minuten absuchen. Entdeckt er ein Rehkitz, rückt er gemeinsam mit seinen Helfern aus, um es unter einem Korb zu sichern und so für den Landwirt sichtbar zu machen.

Pascal Keller, Drohnenpilot aus Homburg. Bild: Lisa Grauso

Diese Aufgabe erfüllt er ehrenamtlich. «Mit meinen Hunden bin ich oft im Wald unterwegs. Ich möchte etwas zurückgeben und aktiven Tierschutz unterstützen.» Seine Ausrüstung nutzt er auch, um entlaufene Tiere – beispielsweise Kälber, Rinder, aber auch Hunde – aufzuspüren. Auch nach vermissten Menschen habe er damit schon gesucht.

Hat es keine Kitze, geht’s schnell

Im Kanton Thurgau dürfen ab dem 15. Juni Ökoflächen gemäht werden. Die Landwirte sind dazu verpflichtet, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, damit beim Mähen keine Tiere verletzt werden. Wenn sie ihre Felder über Rehkitzrettung Schweiz anmelden, rücken die für die Region zuständigen Drohnenpiloten aus. Keller ist in Pfyn, Homburg und am Seerücken unterwegs. An diesem Tag stehen 24 Flächen auf dem Programm. Die Gruppe startet frühmorgens, weil die Temperaturunterschiede zu dieser Zeit stärker ausgeprägt und die Rehkitze mit der Wärmebildkamera somit besser ersichtlich sind.

Auf dem Bildschirm im Kofferraum sieht Keller das Wärmebild, das die Drohne aufzeichnet. Bild: Lisa Grauso

Keller öffnet den Kofferraum, schnappt sich die Drohne und setzt sie auf den Boden. Mit Leichtigkeit bringt er sie zum Abheben. Auf einem Bildschirm, der im Kofferraum seines Autos angebracht ist, ist das Live-Wärmebild der Kamera zu sehen. Gespannt blickt die Gruppe darauf.

An einem Punkt leuchtet das Feld schwach gelb. Aus Erfahrung weiss Keller, dass das kein Tier ist. Um seine Annahme zu bestätigen, fliegt er mit der Drohne dennoch etwas näher heran. Das Feld ist sauber. Er landet die Drohne und packt sie in den Kofferraum. Weiter geht’s.

Kitze fliehen – und kehren wieder zurück

Routiniert lenkt Keller sein Fahrzeug über die holprigen Feldwege. Trotz der Dunkelheit weiss er genau, wohin. Am nächsten Feld angekommen, dasselbe Spiel. Auch dieses ist rehkitzfrei. Nur ein paar Rinder zeigen sich auf dem Wärmebild. Der Rettungstrupp geht so schnell, wie er gekommen ist.

Die hellen, gelben Punkte auf dem Wärmebild sind Tiere. Hier handelt es sich wahrscheinlich um Rinder. Bild: Lisa Grauso

Auf der dritten Fläche müssen sie dann zum ersten Mal ausrücken. Die Drohnenaufnahme zeigt eine Rehgeiss mit ihren Jungen. Mit Körben und einem Kescher, einer Art Netz, stapft die Gruppe aufs Feld, der Drohne hinterher. Ausserdem nehmen sie lange Holzstangen mit, an denen weisse Plastiksäcke angebracht sind. Damit werden die Körbe mit den gesicherten Kitzen für den Bauern sichtbar gemacht.

Diese Fahnen werden auch für das «Verblenden» am Vorabend genutzt. Eine Technik, um Unruhe ins Feld zu bringen und die Rehgeiss dazu zu bewegen, ihre Kitze aus dem Feld zu führen.

Keller beobachtet die Situation weiterhin über die Drohne, deren Aufnahmen er auch über den Controller sieht. «Wir können umdrehen», ruft er auf halbem Weg. Die Tiere haben uns gehört und sind geflüchtet. Das bedeutet aber nicht, dass der Bauer bedenkenlos mähen kann. Sobald wir vom Feld weg sind, kehren die Kitze an ihren Platz zurück. Keller informiert den Landwirt, dass er bei der Mahd an dieser Stelle aufpassen muss.

Wichtig sei, dass nach der Überprüfung mit der Drohne bis zur Mahd nicht zu lange gewartet werde. Denn in der Zwischenzeit könne eine Rehgeiss dort ihre Kitze setzen oder die etwas grösseren Kitze ins Feld zurückkehren. «Dann ist der Aufwand leider umsonst.»

Die richtige Mahd-Technik ist zentral

Langsam geht die Sonne auf. In der Gemeinde Homburg wartet ein weiteres Feld. Das Wärmebild zeigt: Die Rehe fühlen sich hier wohl. Doch auch sie hüpfen davon, sobald wir uns nähern. Wenn die Kitze noch sehr klein sind, bleiben sie wie versteinert liegen und ducken sich. «Man sieht sie fast nicht und muss aufpassen, dass man nicht drauftritt.» Dafür ist es leicht, sie mit den Körben zuzudecken.

Sind die Tiere etwas älter, fliehen sie. Doch sie werden schnell müde und entkommen der Maschine möglicherweise nicht mehr. Um zu verhindern, dass sie davon erfasst werden, bedarf es geeigneter Mähtechniken. Da es am einfachsten ist, werden die Felder vielerorts im Kreis, von aussen nach innen, gemäht. Die Tiere werden dadurch jedoch nach innen getrieben und können nicht entkommen. Ein Mähen von innen nach aussen oder von einer Seite auf die andere soll den Rehen die Fluchtwege offenhalten.

Und wenn die Tiere wie auf dem Feld in Homburg fliehen, nur um kurze Zeit später wieder zurückzukehren, fliegt Keller in manchen Fällen während der Mahd mit der Drohne voraus und informiert den Landwirt, wenn er ein Kitz entdeckt.

Mittlerweile ist es fünf Uhr. Die Gruppe steigt ins Auto und macht sich auf den Weg zum nächsten Feld – ein paar haben sie noch vor sich. Doch um die herzigen Tierchen zu retten, lohnt es sich allemal, auf ein paar Stunden Schlaf zu verzichten.

Von Lisa