Ein Stück Freiheit in Gefangenschaft

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Ziel der Strafanstalt Saxerriet ist die Wiedereingliederung in die Gesellschaft: Deshalb müssen die Eingewiesenen einer Arbeit nachgehen. Tatsächlich ähnelt der Arbeitsalltag in Gärtnerei und Industrie einer Tätigkeit in Freiheit – aber eben nur beinahe.

Erschienen im St.Galler Tagblatt am 18. August 2025

Die Gärtnerei der Strafanstalt Saxerriet. Bild: Niklas Thalmann

«Während der Arbeitszeit fühlt es sich hier an wie draussen», sagt Thomas*. Seit einigen Jahren arbeitet er hier im Verkaufsladen der Gärtnerei der Strafanstalt Saxerriet. Das Wissen über Pflanzen musste er sich zuerst aneignen.

Die Anfahrt zur Strafanstalt ist beinahe idyllisch. Eine mit grossen Bäumen gerahmte Strasse führt vorbei an den verschiedenen Gebäuden der Institution. Auf der danebenliegenden Wiese verweilen Störche, die hier zu Hause sind. In der Ferne erheben sich die Berge. Bloss die weissen Schilder mit der Aufschrift «Strafanstalt» weisen darauf hin, dass der Ort nicht so frei ist, wie er scheint. Oder wie Fritz Zwahlen, stellvertretender Direktor, sagt: «Sieht schön aus, wirkt trotzdem.» Die schöne Landschaft ändere nichts daran, dass die Strafanstalt den Eingewiesenen ihre Freiheit entzieht und sie diszipliniert.

Auf den Weiden der Strafanstalt grasen viele Pferde. Bild: Niklas Thalmann

Hier gibt es keine hohen Zäune, kein Sicherheitspersonal, das mit Waffen ausgerüstet den Eingang kontrolliert. Ziel der Strafanstalt Saxerriet ist die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, erklärt Direktor Michael Heuberger. Dazu gehört auch, einer Arbeit nachzugehen. Das Saxerriet hat sieben Werkhöfe und vier Gewerbebetriebe.

Werkmeister übernehmen mehrere Rollen

In der Gärtnerei haben die Werkmeister Simon Oertle und Anita Kölsch das Sagen. Gemeinsam sind sie für zehn bis 15 eingewiesene Personen verantwortlich. Viele von ihnen haben keine Erfahrung im Bereich. Oertle und Kölsch bilden sie aus, bringen ihnen beispielsweise bei, ihren Arbeitsplatz sauber zu halten – Dinge eben, die in jedem Job gefordert werden. Hinzu kommt die Ebene der Betreuung: «Die Eingewiesenen haben dieselben Probleme wie wir alle», sagt Kölsch. Familie, Liebe, Gesundheit.

Simon Oertle und Anita Kölsch leiten die Gärtnerei der Strafanstalt Saxerriet. Bild: Niklas Thalmann

Neben der Arbeit mit den Eingewiesenen kümmern sich Oertle und Kölsch auch um das Sortiment und den Verkauf. Die Arbeit als Werkmeister ist kein Nine-to-five-Job. Sie machen viele Überstunden, vor allem im Frühjahr. Wenn einer der beiden ausfällt, ist die andere Person allein. Kapazität für einen weiteren Werkmeister gäbe es, doch der Arbeitsmarkt reisst sich nicht um die Stellen.

Kölsch ist seit sechs Monaten im Saxerriet, seit dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Vollzugsfachfrau. Die Arbeit erscheint ihr sinnstiftend. Anders als in der Privatwirtschaft gehe es hier nicht nur darum, zu produzieren und zu verkaufen. Im Zentrum steht, eine Tagesstruktur zu erarbeiten, um den Wiedereinstieg in die freie Arbeitswelt vorzubereiten.

Die Gärtnerei umfasst 13 Gewächshäuser. Bild: Niklas Thalmann

Das Verhältnis bleibt distanziert

Mit 5000 Quadratmetern entspricht die Fläche der Gärtnerei beinahe der eines Fussballfelds. Angebaut wird alles: von Gemüse über Blumen bis hin zu Kräutern und Ingwer. Zwei ältere Personen kaufen gerade Setzlinge für ihren Schrebergarten. Sie kommen regelmässig her, weil die Preise stimmen und der Laden nah von daheim ist. Dass hier Straftäter arbeiten und frei herumlaufen, besorgt sie nicht.

Vor dem Verkaufsladen bewässert ein Eingewiesener gerade die Pflanzen. Auf der anderen Seite des Areals pflücken zwei weitere Heidelbeeren. Oertle ruft einen Eingewiesenen zu sich. «Seit wann bist du hier?», «Was hast du davor gemacht?», «Gefällt es dir?»

Die Gärtnerei hat einen eigenen Verkaufsladen und Heidelbeersträucher. Bilder: Niklas Thalmann

Der junge Mann beantwortet die Fragen geduldig. Er hat vor seiner Haft eine KV-Lehre absolviert. Nach acht Monaten in einer geschlossenen Anstalt kam er ins Saxerriet und ist nun seit vier Monaten hier. Das habe viele Vorteile: Er könne Ausgang oder Urlaub beantragen, um Familie und Freunde zu sehen. Doch er bevorzuge die geschlossene Haft, da er dort nicht arbeiten musste. Obwohl bei dieser Aussage alle lachen, ist die Distanz spürbar. Es ist kein normales Arbeitsverhältnis.

Auch körperliche Auseinandersetzungen kommen vor. Wenn die Situation eskaliert und die Werkmeister nicht allein deeskalieren können, betätigen sie den Sicherheitsknopf am Handy – der Sicherheitsdienst ist innert kurzer Zeit vor Ort.

Vertrauen, dass kein Risiko besteht

Hinter der Gärtnerei befinden sich die Metzgerei sowie die Stallungen für Schweine, Kühe, Esel und Pferde. Ein Stück weiter die Industrie. Werkmeister ist Thomas Bigger. Er ist schon seit 13 Jahren im Saxerriet und übernimmt in der Industrie Verantwortung für acht bis zwölf Eingewiesene. Unterstützung könnte er gut gebrauchen.

Der Industrie-Werkmeister Thomas Bigger in seinem Büro. Bild: Niklas Thalmann

Durch das Fenster in seinem Büro hat er den Überblick über seine Werkstatt. Vor ihm stehen zwei Computerbildschirme: «Der links für die Industriearbeit, rechts für die Arbeit mit den eingewiesenen Personen.» Die Akten der neuen Eingewiesenen überfliegt er vor dem Arbeitsantritt, um nicht in Fettnäpfchen zu treten. Unabhängig vom Vergehen muss Bigger davon ausgehen können, dass keine Gefahr besteht und der Eingewiesene arbeitsfähig ist. «Sonst könnte ich niemandem eine Schraube geben.»

Ein Arbeitsplatz in der Industrie. Bild: Niklas Thalmann

Die Eingewiesenen sind wegen verschiedener Straftaten hier, von vermehrtem Schwarzfahren bis hin zu Totschlag. Die Haftstrafen fallen dementsprechend unterschiedlich lange aus: zehn Tage, zwei Jahre oder mehr. Einer ist gar in Verwahrung. Das führt zu skurrilen Situationen: Während sich ein Eingewiesener darüber aufregt, dass er sein Smartphone abgeben muss, hat ein anderer die Mobilfunkentwicklung überhaupt nicht mitbekommen, weil er schon so lange sitzt.

Der bunte Mix ist schwer zusammenzufügen

Es sei nicht unüblich, dass sich die Eingewiesenen über den Grund für ihre Haftstrafe anlügen. «Jeder ist reich und hat viele Frauen», fügt Bigger an und lacht.

Bei der Arbeitseinteilung durchlaufen die Eingewiesenen ein Anforderungsraster, so kommen die verschiedensten Menschen zusammen. Bigger habe schon jeden Typ Mensch in seiner Werkstatt gehabt: «Vom Zirkusartisten zum Bankmanager, vom Buddhisten zum Skinhead.» Herauszufinden, wie die Zusammenarbeit zwischen den Eingewiesenen funktioniert, vergleicht er mit einer Schachpartie.

Wie idyllisch die Institution bei der Anfahrt auch scheinen mag, am Ende des Arbeitstags geht es für die Eingewiesenen zurück in ihre Zellen. Darum seien alle froh, wenn sie ihre Haft abgesessen haben, versichert der stellvertretende Direktor Zwahlen. Das Saxerriet ist schliesslich noch immer eine Strafanstalt und keine Feriendestination.

Von Lisa