«Manchen zu modern, anderen zu konservativ»

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Seit 30 Jahren begleitet das «Pfarreiforum» als Pfarreiblatt des Bistum St.Gallen die Entwicklungen der katholischen Kirche. Redaktionsleiter Stephan Sigg will zeigen, dass Kirche trotz Skandalen, Krisen und Kritik auch Hoffnung machen kann.

Erschienen im St.Galler Tagblatt am 13. September 2025

Stephan Sigg ist Redaktionsleiter des «Pfarreiforums». Bild: zvg/Matthias Frager
Am 7. September wurde Carlo Acutis von Papst Leo XIV heiliggesprochen. Was denken Sie darüber?

Stephan Sigg: Ich bin gespalten. Nicht nur, was ihn betrifft, sondern allgemein, was Heilige angeht. Einerseits finde ich es schön, dass die katholische Kirche Menschen für ihren Glauben und ihr Wirken ehrt. Carlo zeigt, dass es keine Frage vom Alter ist: Auch Kinder und Jugendliche können Vorbilder sein und Beeindruckendes leisten. Andererseits werden Heilige auf einen Sockel gestellt und man vergisst, dass sie Menschen waren wie du und ich.

Wer ist der «Cyber-Apostel»?

Der 1991 geborene Carlo Acutis zeigte schon früh einen tiefen Glauben. Mit elf Jahren programmierte er eine eigene Website – ein Verzeichnis aller Eucharistie-Wunder. In Mailand, seinem Heimatort, half er Obdachlosen, Drogenabhängigen und Migranten. 2006 verstarb Acutis im Alter von 15 Jahren an Leukämie. Nach seinem Tod soll er Menschen auf wundersame Weise geheilt haben. Zwei Heilungen wurden vom Vatikan anerkannt, weshalb Acutis 2025 heiliggesprochen wurde. Sein Leichnam liegt heute in einer Kirche im italienischen Assisi. Jährlich pilgern eine Million Menschen dahin, um ihn zu sehen.
Acutis gilt als «Schutzpatron des Internets» und ist bekannt dafür, dass er das Wort Gottes online verbreitet hat. Braucht es heutzutage das Internet, um den katholischen Glauben zu verbreiten?

Internet, Social Media, aber auch klassische Medien sind wichtige Kanäle, um die frohe Botschaft zu verbreiten. Dabei geht es nicht nur darum, Parolen auszusenden, sondern den Fokus auf das Gute zu richten. Für die Kirche sind die Medien extrem wichtig, weil sie viele Menschen erreichen, die sonst nie im Gottesdienst sind oder sich nicht mit der Kirche identifizieren können. So kann sie in die Welt wirken und ihre Werte zeitgemäss weitergeben.

Also sollten auch klassische Medien mehr über die Kirche berichten?

Wie die Medien Politik und Wirtschaft kritisch begleiten, braucht es auch eine kritische Auseinandersetzung mit Kirchen und Religionsgemeinschaften. Viele Veränderungen der vergangenen Jahre sind erst durch den Druck von aussen möglich geworden.

Viele Journalisten kennen sich gut aus in Politik und Wirtschaft. Mit der Kirche setzt man sich relativ wenig auseinander.

Es ist schwierig, über die Kirche zu berichten, wenn sie einem fremd ist. Man kommt schnell in Vorurteile und Stereotypen. In der Kirche gibt es jedoch ein breites Spektrum an Menschen, Einstellungen und Spiritualitäten. Von traditionell bis progressiv.

Heiligsprechungen oder Bischofswahlen bekommen mediale Aufmerksamkeit. Aber sie sind nur ein Aspekt. Was täglich in den Pfarreien passiert – Diakonie, Jugendarbeit, Betreuung, Seniorenbegleitung, kulturelle Angebote – wird oft vergessen. Das ist viel mehr Kirche als ein Einzelereignis wie eine Heiligsprechung.

Für sie ist der soziale Aspekt also zentral.

Genau. Es ist auch der Grund, warum ich mich persönlich engagiere und fürs Pfarreiforum schreibe. Um aufzuzeigen: Kirche ist nicht nur die Missbrauchsdebatte oder die Frage nach der Rolle der Frau.

Trotzdem sind diese Themen wichtig. Über die Missbrauchsstudie, die die Universität Zürich 2023 publiziert hat, haben Sie damals im Pfarreiforum berichtet. Müssten diese Themen nicht regelmässig aufgegriffen werden?

Wir müssen dranbleiben, damit es nicht aus dem Bewusstsein verschwindet. Gleichzeitig müssen wir zeigen, dass es Fortschritte gibt. Das Pfarreiforum bearbeitet das Thema schon seit 20 Jahren.

Zum 30. Jubiläum haben Sie das Archiv durchstöbert. Wo hat die katholische Kirche Fortschritte gemacht?

Was sich massiv verändert hat, sieht man bei Fragen rund um Sexualität. Wir haben ein Beispiel zum Thema Scheidung gefunden, bei dem vor 30 Jahren noch sehr despektierlich berichtet wurde. Heute wird das auch in der Kirche nicht mehr stigmatisiert.

Zudem wurden früher viele Priester interviewt, heute mehr Seelsorgerinnen. Das entspricht der Realität. Es gibt immer weniger Priester, dafür mehr Frauen in Leitungspositionen. Positiv ist, dass sich diese zunehmende Diversität in den Pfarreien auch in unserem Heft widerspiegelt.

Darf das Pfarreiforum auch eine Vorreiterrolle einnehmen und anderer Meinung sein als die Kirche?

Wir haben redaktionelle Freiheit. Uns ist es wichtig, dass wir Diskussionen in Gang setzen können. Da gibt es manchmal krasse Reaktionen. Manchen Leserinnen ist es zu modern, anderen zu konservativ. Es braucht Impulse von aussen, die manchmal auch wehtun oder herausfordern. Nur so kann sich die Kirche weiterentwickeln.

Gibt es ein Thema, wo Sie gerne einen Impuls setzen würdet?

Die Idee einer synodalen Kirche: Nicht von oben herab, sondern gemeinsam entscheiden. Jeder Gläubige, jedes Mitglied soll Teil von Veränderung sein können.

Allgemein wollen wir zeigen, dass die Kirche mehr Mut haben soll. Mut zur Veränderung: Neues ausprobieren, neue Angebote lancieren und neue Wege in der Kommunikation gehen.

Wie kann sich die katholische Kirche konkret verbessern?

Sie muss Nähe schaffen, in ihrer Kommunikation und Sprache verständlicher werden. Die Atmosphäre ist wichtig, damit sich die Menschen wohlfühlen. Nur ein Beispiel: Wir sind oft in Pfarrzentren, die aussehen wie in den Siebzigerjahren. Sie haben keinen Charme. Das schreckt viele junge Menschen ab. Auch bei der Willkommenskultur gibt es noch viel Luft nach oben. Man investiert viel Energie in Gottesdienste. Aber wenn jemand an einem Sonntag zum ersten Mal in die Kirche kommt, fühlt sich diese Person willkommen?

Sie berichten im «Pfarreiforum» auch über sehr aktuelle Themen. Zuletzt schrieben Sie über KI-Tools, die Gespräche mit Verstorbenen simulieren. Warum dieses Thema?

Es soll immer eine Überraschung sein. Etwas, das irritiert oder die Frage aufwirft, was das mit der Kirche zu tun hat. Im ersten Moment hat KI mit Glauben nichts zu tun. Aber es geht um den Tod und darum, was danach kommt. Diese Fragen sind im Christentum zentral.

Im Pfarreiforum findet hauptsächlich der christliche Glaube Platz.

Der christliche Glaube ist im Fokus, aber wir wollen auch Brücken bauen. Wir haben eine Gläubige porträtiert, die sehr katholisch ist, aber für die Yoga wichtig ist. Das hat einige negative Reaktionen ausgelöst. Dabei wurde schon lange aufgearbeitet, dass sich Christentum und Yoga kombinieren lassen.

Unsere Leserinnen und Leser stellen sich ihr Leben so zusammen, wie es für sie passt. Wir versuchen, diese Realität in unserem Heft wiederzugeben. Es gibt nicht nur eine Form des Katholisch-Seins, sondern ganz viele.

Das Pfarreiforum wird über die Kirchensteuer finanziert. Im vergangenen Jahr sind 4004 Personen aus der Kirche ausgetreten. Bereitet Ihnen diese Zahl Sorgen?

Es macht mich betroffen. Einerseits fehlen Menschen in der Kirche. Gerade kritische Stimmen sind wichtig. Andererseits ist es finanziell schade. Die Kirche hat immer weniger Möglichkeiten, gleichzeitig steigen die Erwartungen. Wie kann die Kirche so in Zukunft Angebote wie Seelsorge, Jugendarbeit und Betreuung gewährleisten?

Ich hoffe, dass das Pfarreiforum den Menschen ein differenziertes Bild von Kirche vermittelt. Dass sie sehen: Kirche kann gut sein. Es lohnt sich, dabei zu bleiben und sie finanziell zu unterstützen.

Von Lisa