«Tut jedem Ego gut»

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Durch seine Zivilcourage wurde Mirco Brühwiler zum Helden. Und das für etwas, das er bei seiner früheren Arbeit fast täglich machte. So geht es dem Ostschweizer ein Jahr später.

Erschienen im St.Galler Tagblatt am 7. September 2025

Mirco Brühwiler ging dazwischen, als ein Mann Kinder mit einem Messer angriff. Bild: Niklas Thalmann

Es ist Dienstag, der 1. Oktober 2024. Für Mirco Brühwiler beginnt der Tag wie jeder andere. Er fährt für die Arbeit nach Oerlikon, wo er beim Migrationsamt des Kantons Zürich als Fachspezialist im Vollzug tätig ist. Er arbeitet bis am Mittag. An diesem Tag bleibt er etwas länger als üblich, da er auf seine Partnerin und die Kinder wartet. Sie wollen heute gemeinsam Mittagessen.

Dann hört er sie: Die Kinder, die üblicherweise fröhlich am Bürogebäude vorbeigehen, schreien und rufen nach Hilfe. Als Brühwiler das Fenster öffnet, macht ihn eine Passantin darauf aufmerksam, dass jemand mit dem Messer auf die Kinder losgeht. Er eilt aus dem Gebäude und sieht, wie ein junger Mann auf dem Boden kniet. Passanten beschreiben ihn als den Täter. «So weit tat er nichts», erinnert sich Brühwiler heute. Also ruft er zuerst die Polizei an. Es sind bereits mehrere Anrufe eingegangen. Danach geht er zum Mann und hält ihn fest.

Zu dem Zeitpunkt ist Brühwiler nicht klar, wie prekär die Situation ist. Er weiss nichts von den drei fünfjährigen Buben, die bei der Attacke teils schwer verletzt wurden. Als die Polizei den Tatort erreicht, überlässt Brühwiler ihnen den Täter und geht mit seiner Familie Mittagessen. Das Adrenalin überkommt ihn erst danach, als er zurückkehrt und sieht, wie gross das Polizeiaufgebot ist.

Er hilft nicht das erste Mal

Der Vorfall hat Brühwilers Leben für einige Wochen auf den Kopf gestellt. Nicht nur Freunde, Bekannte und Angehörige sprachen ihn auf seine Heldentat an. Der Zürcher Sicherheitsdirektor und der städtische Schulvorsteher bedankten sich gar persönlich. Eine Medienanfrage folgte auf die nächste. Brühwiler gab selektiv Interviews.

Heute, knapp ein Jahr später, ist alles beim Alten. Das öffentliche Interesse an seiner Zivilcourage ist verflogen. Wie geht es ihm? Das Geschehene belastet Brühwiler nicht. Dass er die Erfahrung so leicht wegstecken konnte, hat sicherlich auch mit seiner früheren Arbeit zu tun. 13 Jahre lang arbeitete er als Polizist, zuerst bei der Kantonspolizei Bern, dann bei der Kantonspolizei St.Gallen. Situationen wie diese gehörten zum Alltag.

Und doch: Erst durch sein Eingreifen als Zivilist wurde Brühwiler zum Helden. «Es war sehr seltsam», sagt er. Plötzlich Ruhm für etwas zu ernten, das davor beinahe normal war. «Ich habe mich immer aktiv gegen die Bezeichnung ‹Held› gewehrt.» Die Menschen, die solche Gefahrensituationen täglich bewusst in Kauf nehmen, um anderen zu Helfen – also die Polizisten, die täglich im Einsatz stehen – das seien die wahren Helden.

So bescheiden er sich auch gibt, Brühwiler muss eingestehen: Die Aufmerksamkeit und der Ruhm waren ein angenehmer Nebeneffekt. «Ich glaube, das tut jedem Ego gut.»

Nicht vergleichbar mit einem Polizeieinsatz

Obwohl das Eingreifen an diesem Tag im Oktober für Brühwiler fast eine natürliche Reaktion war, sei die Erfahrung doch eine andere gewesen als ein Polizeieinsatz. Er trug weder Schutzausrüstung noch eine Waffe. Er hatte keine Rückendeckung von Kolleginnen und Kollegen, mit denen er über Funk hätte kommunizieren können. Das wurde ihm erst im Nachhinein wirklich bewusst. «Ich habe mir schon überlegt, ob es leichtsinnig war, einzugreifen», sagt er, doch kommt zum Schluss: Nein. Es sei eine bewusste Entscheidung gewesen, die er so wieder treffen würde.

Brühwilers Partnerin, Francesca Corvaglia, hatte nach seinem Einsatz gemischte Gefühle: «Einerseits war ich sehr stolz», sagt sie, «auf der anderen Seite wurde mir bewusst, dass ich ohne ihn allein mit fünf Kindern dastünde.» Gute Tat hin oder her.

Helfen, auch wenn man kein Profi ist

Dennoch ist Brühwilers Handeln ein exemplarisches Beispiel für Zivilcourage. In dieser schwierigen Situation handelte er ruhig und überlegt. Hätte er das auch ohne das professionelle Training, das er während seiner Ausbildung zum Polizisten absolviert hat, gekonnt?

Das sei schwierig zu beurteilen, meint er. In Gefahrensituationen reagieren Menschen unterschiedlich. Manche verfallen in eine Schockstarre. In der Fachsprache nenne sich dies die schwarze Phase, erklärt Brühwiler. Auch Profis können in diesen Zustand verfallen. Wichtig sei, möglichst schnell wieder herauszufinden. Darauf werden Polizisten trainiert.

Doch um Zivilcourage zu beweisen, muss man sich nicht unbedingt selbst in Gefahr begeben – sie hat verschiedene Gesichter. «Jeder entscheidet selbst, wie er mit seinem Leben umgeht und wofür er einsteht», meint Brühwiler. Wichtig sei: «Jeder kann etwas tun.» Auch wenn es nur ist, zum Telefon zu greifen und die Polizei zu verständigen.

Von Lisa