Zwanzig Jahre lang bestimmten Alkohol, Kokain und Heroin den Alltag von Michel Sutter. Heute ist er clean. Am Donnerstag, 22. Mai, erzählt er seine Geschichte im Begegnungszentrum Viva in Frauenfeld.
Erschienen in der Thurgauer Zeitung am 21. Mai 2025

Michel Sutter ist 50 Jahre alt, Vater einer bald zweijährigen Tochter, Peer auf einer Suchtstation und, wie er sich mit einer gewissen Selbstironie bezeichnet, «Ex-Junkie». Zwanzig Jahre lang bestimmten Alkohol, Kokain und Heroin seinen Alltag. Seit 2011 ist er clean.
Sutter möchte seine Vergangenheit nicht beschönigen oder gar verheimlichen – von einem Doppelleben hat er schon lange «die Schnauze voll». Mit der Intention, als Beispiel zu agieren und Menschen zu motivieren, über ihre Gedanken und Gefühle zu sprechen, macht er seine Geschichte durch eine Bühnenshow öffentlich. «Das grössenwahnsinnige Ziel ist, einen gesellschaftlichen Wandel mitbeeinflussen zu können», sagt Sutter.
Am Donnerstag, 22. Mai, tritt er gemeinsam mit Freund und Musiker Christian Antonius Müller im Begegnungszentrum Viva in Frauenfeld auf. Müller hat Sutters Weg in die Abhängigkeit und zurück miterlebt. Auf der Bühne begleitet er dessen Geschichte mit eigenen Kompositionen am Piano.
Die Sucht der Eltern und ihre Folgen
Sutter und sein drei Jahre älterer Bruder wuchsen als Kinder suchtbelasteter Eltern auf. Deren Alkoholkonsum habe über die Jahre stetig zugenommen, so lange, bis sich der Vater mit mehreren Getränkelieferanten versorgte. Die Sucht führte zu Gewalt. Auch Suizidalität sei ein immer präsentes Thema gewesen. «Wir haben die psychische Krankheit unserer Eltern voll abbekommen.»
Mit 14 Jahren rutschte Sutter selbst in die Sucht. Was mit Bier und Partydrogen anfing, endete in einer zwanzig Jahre langen Abhängigkeit von Alkohol, Kokain sowie Heroin und in einem Leben auf der Strasse. Um die Sucht zu finanzieren, beging Sutter immer wieder Einbrüche. Eine Abwärtsspirale, aus der er nicht entkommen konnte.
«Irgendwann war ich so tief, dass ich gar nicht mehr tiefer konnte.» Am 8. Januar 2011 plante er also einen letzten Einbruch. Das Geld brauchte er, um sich Stoff für den goldenen Schuss zu besorgen: die letzte Heroinspritze, eine bewusst gesetzte Überdosis. Doch dazu kam es nicht.
Sutter wurde beim Versuch, einzubrechen, verhaftet. An das darauffolgende Gespräch mit der Staatsanwältin erinnert er sich noch heute: «Ich wurde mit Menschlichkeit konfrontiert, als ich mich selbst gar nicht mehr als Mensch wahrgenommen habe.» Das habe eine Aufwärtsdynamik in Gang gesetzt, die er nicht mehr unterbrochen habe.
Wenn die Krankheit zur Identität wird
Heute arbeitet Sutter als Peer auf einer Suchtstation und unterstützt suchtkranke Menschen. Er weiss noch genau, wie es sich anfühlte, auf der anderen Seite zu stehen. Rund fünfzehn stationäre Aufenthalte, unzählige Stunden in Einzel- und Gruppentherapien: «Hallo, ich bin Michel, und ich bin Alkoholiker» oder «Ich bin Michel, und ich bin süchtig». Die Sucht als Bestandteil der Identität – ein Entkommen offenbar unmöglich. Immer wieder sei ihm eingebläut worden, dass er an einer unheilbaren Krankheit leide.
Das sei das Problem mit Suchthilfegruppen. «Ich möchte nicht unheilbar krank sein», sagt Sutter. Die Vorstellung, von der Abhängigkeit nicht loskommen zu können, macht Zuversicht und Wandel schwierig. Als dann eine Ärztin Sutter zum ersten Mal erklärte, dass die Folgen der Sucht doch reparabel seien, habe er sich an diesem Gedanken festgekrallt. Er dachte: «Ich bastle mir ein suchtfreies Hirn und ein neues Leben.»
Alkohol als gesellschaftliche Errungenschaft
Sutter ist überzeugt, dass er wieder süchtig werden könnte. Er verzichtet deshalb auf den rituellen Alkoholkonsum, etwa auf das Anstossen in der Bar mit einem Bier oder das Glas Wein zum Abendessen. Auf dieses Spiel habe er keine Lust. «Es ist für mich eine Form der Selbsttäuschung, weil es in jedem Fall eine Betäubung ist.» Eine akzeptierte, gar normalisierte Droge, die als «gesellschaftliche Errungenschaft, Freizeitbeschäftigung und Kulturgut» verkauft wird.
Sutter beschreibt Alkohol als perfektes Mittel, um in der Gesellschaft zu existieren. «Was gibt es denn zu betäuben?» Er beantwortet seine Frage selbst: Viele Menschen seien unglücklich, unzufrieden, psychisch belastet. Sie arbeiten acht Stunden täglich für ein fremdes Ziel. Der Höhepunkt sei deshalb, am Abend unter Alkoholeinfluss die Sau rauszulassen. «Das Gefühl von Abenteuer und Erleben – eine plumpe Ersatzhandlung», sagt Sutter.
Entstigmatisierung und Versöhnung
Am 22. Mai findet der Nationale Aktionstag Alkoholprobleme unter dem Motto «verstehen statt verurteilen» statt. Obwohl Alkoholkonsum in der Gesellschaft normalisiert ist, stossen Abhängige auf wenig Verständnis. Also verstecken Betroffene ihr Problem.
In Anbetracht dessen buchte das Blaue Kreuz Schaffhausen-Thurgau die Bühnenshow. Für Sutter ist die Bereitschaft, über die Sucht zu sprechen, der erste Schritt zur Genesung. Mit der Bühnenshow möchten er und Müller ihren Beitrag zur Entstigmatisierung leisten. Ein Gespräch auf Augenhöhe, geprägt von «Menschlichkeit, Authentizität und Realität».
In Zukunft planen sie, mit ihrer Bühnenshow den deutschsprachigen Raum zu bereisen und das Angebot für Gemeinden zugänglich zu machen – zur Prävention oder als kulturellen Anlass.
Die Show ist nicht nur für Zuhörerinnen und Zuhörer eine Bereicherung. Sutter beschreibt sie als «riesigen Versöhnungsakt». Dass andere Menschen an seiner Geschichte Anteil nehmen und zuhören, hätte er sich damals nicht vorstellen können. Und doch kann ebendiese scheinbar simple Begegnung auf Augenhöhe für Betroffene ein Schlüsselmoment, ein Wendepunkt sein.




