Der Thurgauer Beat Kälin filmte den Bergsturz, der am 28. Mai das Walliser Dorf Blatten unter sich begrub. Seine Aufnahmen gingen um die ganze Welt. Obwohl er durch seine Arbeit als Blaulichtreporter täglich schwere Schicksale miterlebt, war dieser Auftrag anders.
Erschienen in der Thurgauer Zeitung am 4. Juni 2025

Tagelang wartet Beat Kälin, ohne genau zu wissen, worauf. Von neun Uhr abends bis neun Uhr morgens hält er Wache. Manchmal hoppelt ein Feldhase vorbei, er beobachtet Murmeltiere und sogar Steinböcke. Doch keine Menschenseele durchbricht die Stille auf der Weritzer Alp. Kälins Blick ist fest auf das kleine Nesthorn und das darunterliegende Walliser Dorf Blatten gerichtet. Kamera und Drohne sind stets bereit. In der Früh löst ihn sein Kollege Roger Lips für die Tagesschicht ab.
Nach neun Tagen, in den frühen Morgenstunden des 28. Mai, spitzt sich die Situation zu. Während seiner Wache beobachtet Kälin einen grossen Abriss. Als Lips zur Ablösung kommt, bleibt er mit ihm auf der Alp. Dann passiert lange Zeit nichts. Erst gegen drei Uhr nachmittags bildet sich ein grosser Riss auf der rechten Seite des Gletschers, der immer grösser wird. Kälin informiert das SRF und den Krisenstab.

Jetzt müssen sie schnell handeln: Kälin schickt Lips mit der Drohne hinunter ins Tal. Kaum ist er dort, ereignet sich das Unglück. Zuerst von der linken, kurze Zeit später von der rechten Seite – eine Lawine aus Geröll, Eis, Stein und Fels. Die Masse rutscht nach unten und auf der anderen Seite 200 Meter talaufwärts. Kälin spürt eine starke Druckwelle, der Boden vibriert. Später erfährt er, dass der Bergsturz ein Erdbeben mit einer Stärke von 3,1 ausgelöst hat. Eine Staubwolke bildet sich, dicht wie eine Wand. Und Lips ist noch immer im Tal. «Ich hatte solche Angst um Roger», erinnert sich Kälin.
Obwohl er zu dieser Zeit schon seit 18 Stunden auf den Beinen ist, ist er hellwach. Adrenalin durchströmt seinen Körper. Zum Glück folgt nur wenig später die erleichternde Nachricht seines Kollegen: Durch den Staub habe er zwar kaum durch die Frontscheibe des Autos sehen können, doch er sei in Sicherheit.
Von Reportern zu Unterstützern der Behörde
Kälin ist Gründer der TV-Produktionsfirma BRK News. Das Unternehmen wurde in Pfyn gegründet, wo es lange seinen Hauptsitz hatte. Mittlerweile befindet er sich in Wigoltingen. Spezialisiert auf Blaulichtnachrichten, versorgt BRK News Medienhäuser im In- und Ausland mit Bild- und Videomaterial von Unfällen, Bränden, Verbrechen, Polizeieinsätzen oder Katastrophen. Meist sind sie die ersten vor Ort, sagt Kälin. Dann seien sie so schnell weg, wie sie gekommen sind.
Am 19. Mai wurden sie von SRF gebucht und ins Wallis geschickt. Eigentlich nur für zwei Tage. Doch sie verlängerten ihren Einsatz und wurden dabei mehr als Reporter. Am zweiten Tag kam der Anruf vom Krisenstab. Durch eine SRF-Berichterstattung wurde dieser auf die Bilder aufmerksam, die Kälin mit seiner Nachtsichtkamera aufgenommen hatte. Seine Ausrüstung ermöglichte eine kontinuierliche Beobachtung des Gletschers und wurde so zum zentralen Bestandteil der Einsatzleitung.

Kälin und Lips wurden in die Führungsstabstruktur eingebettet und hatten Zugriff auf hochsensible Bereiche. «Eine völlig neue Situation», sagt Kälin. Aus den vertraulichen Informationen hätten sie viele Geschichten erzählen können. Doch von der Krisensituation zu profitieren, kam für ihn nicht infrage. «Sie haben uns viel Vertrauen entgegengebracht und das haben wir nie ausgenutzt.»
Filmen wo andere wegschauen
Bis zuletzt hofften Kälin und Lips, dass der Gletscher weiterhin nur in kleinen Stücken abbricht und das Katastrophenereignis so besser kontrollierbar bleibt. Doch am 28. Mai müssen sie das Worst-Case-Szenario mit ihren Kameras festhalten. Das Videomaterial geht um die Welt. Hätte er den Bergsturz privat gefilmt, könnte er jetzt ein reicher Mann sein, sagt Kälin.

Bild: SRF / BRK News

Bild: SRF / BRK News
Doch Kontinuität sei ihm wichtiger. BRK News generiert seine Einnahmen nicht durch den Verkauf einzelner Aufnahmen von Ereignissen, sondern bietet den Medienhäusern einen Blaulichtservice im Abomodell. Ins Auto hechten und hoffen, es gibt Tote – das kann und will er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, sagt Kälin. Bei jedem Einsatz überlege er sich, wie es wäre, wenn er oder eine ihm nahestehende Person betroffen wäre. «Dann gehe ich anders an den Fall, mache andere Bilder. Ich komme nie in Konflikt mit mir selbst.»
Nur durch Abgrenzung kann er weiter machen
Am Tag des Bergsturzes kommen vor Ort zwei Blattner Familien auf Kälin und Lips zu. Sie fragen nach den Drohnenaufnahmen, wollen sehen, ob ihr Zuhause noch da ist. Eine Familie kann aufatmen: Ihr Haus wurde von der Gletschermasse verschont. Die andere hatte kein Glück. Sie brechen in Tränen aus.
Wie oft in seinem Beruf sagt sich Kälin innerlich: «Ich kann nichts dafür. Ich bin unschuldig.» Es sei ein Gedanke, der ihm etwas helfe, sich von den schweren Schicksalen abzugrenzen – jeden Tag aufs Neue.




